Waisenkinder des Königreichs
Bei jedem Treffen tragen Gruppenmitglieder ein Thema vor, auf das sie sich vorbereitet haben. Sindys Beitrag heute ist ein eigenes Gedicht über Teenager-Schwangerschaften. Sie sind weit verbreitet, ein häufiger Grund für den Ausstieg aus der Schule. „Denkt daran, ein Baby ist teuer!“, ruft das Mädchen der Gruppe zu. „Warum zerstört ihr damit euer Leben? Education first, children later“ (Bildung zuerst, Kinder später), ist ihre Botschaft, viel wirksamer, wenn es von einer Gleichaltrigen kommt als von einem Erwachsenen mit erhobenem Zeigefinger. Ein anderer referiert über das Thema Armut. Hier sind sie alle Experten, jeder hier lebt von der Hand in den Mund. Joseph hat die Lacher auf seiner Seite, als er sein Gedicht „What is money“ (Was ist Geld) vorträgt, in dem auch die Kritik am Königshaus laut wird.
So jung die Mädchen und Buben auch sind, sie haben begriffen, dass eine gute Schulbildung ihre einzige Chance für ein besseres Leben ist. Ihre Eltern sind fast alle tot, Eswatini hat die höchste HIV-Rate der Welt, zwei Drittel aller Todesfälle sind auf Aids zurückzuführen. Mit katastrophalen Folgen für das kleine Land. Es ist die mittlere Generation, es sind die Ernährer, die sterben – und damit deren Wissen und Fähigkeiten, die zum Broterwerb nötig sind, was wiederum die bereits vorherrschende Nahrungsmittelknappheit und Armut verstärkt. Das Wirtschaftswachstum fällt seit 2004 um jährlich etwa 1,6 Prozent niedriger aus. Die Anbauflächen haben sich um 34 Prozent, die Viehherden um 30 Prozent verkleinert, und die Maisernte ist um 55 Prozent gesunken. Die Zahl der (Aids-)Waisen steigt dramatisch. Jedes fünfte Kind wächst ohne Eltern auf. Wenn die Kinder Glück haben, gibt es noch Großmütter, die sich um sie kümmern, ansonsten sind sie auf sich selbst gestellt.
Um halb sieben machen sich die Kinder auf den einstündigen Fußmarsch zur Schule, Wiesen und felsige Abhänge hinauf und wieder hinunter, Straßen gibt es hier oben im Gebirge nicht. Im Winter ist es morgens noch stockdunkel, dann ist der Weg gefährlich wegen der Dungas, den tiefen Felsspalten mitten in der Landschaft. Wenn es regnet, sitzen sie mit nassen Sachen im ungeheizten Klassenzimmer. Um 15.45 Uhr geht es wieder zurück nach Hause. Die Kinder versorgen die Kühe und das kleine Maisfeld hinter dem Haus, schleppen Wasser vom Fluss tief unten im Tal herauf, in schweren 20-Liter-Kanistern. Niemand drängt sie, Hausaufgaben zu machen, sie machen sie freiwillig. Bildung ist ihre Chance, sie haben keine andere. Eine Nachbarin, eine ehrenamtliche Mitarbeiterin von ACAT, sieht immer wieder nach dem Rechten, gibt von dem Wenigen, das sie selbst für sich und ihre achtköpfige Familie hat, ab, steht ihnen mit Rat und Tat zur Seite. Sisifo möchte später nicht in der Landwirtschaft arbeiten, sondern Lehrer werden. Enock Dlamini, der selbst aus armen Verhältnissen stammt, glaubt an Sisifo: „Der Bub kann es schaffen“, ist er überzeugt, „er muss nur dranbleiben.“
In einigen Dörfern von Shiselweni ist der Hunger seit Jahren kein Thema mehr. Verschiedene Hülsenfrüchte – wie etwa Cowpeas, zu Deutsch Augenbohnen – sowie reichlich Tomaten und Kürbisse: So lautet die Erntebilanz vom Community Garden. Vier Hektar Ackerboden, bewirtschaftet hauptsächlich von den Dorfkindern, jungen Leuten, denen die Familien den Anbruch neuer Zeiten verdanken. Die Mädchen und Buben waren den ewigen Hunger leid, und so waren sie auf die Idee gekommen, den alten brach liegenden Gemeinschaftsacker wieder zu reaktivieren. Was ihnen fehlte, war das nötige Wissen und eine vernünftige Bewässerung. Dass es dann funktioniert mit den Ernten, hatten sie auf Feldern gesehen, die die Bewohner von Nachbardörfern unter Anleitung des Kindernothilfe- Partners ACAT bewirtschaftet hatten.
ACAT fand die Idee großartig und bot Unterstützung an. Die Organisation legte Wasserleitungen von höher gelegenen Brunnen ins Tal, besorgte eine kleine Wasserpumpe, schulte die Kinder und einige Eltern im landwirtschaftlichen Know-how. „Wir haben arrangiert, dass einige Erwachsene während der Woche aushelfen, während die Kinder in der Schule sind“, erklärt Enock Dlamini. „Aber am Wochenende sind sie alle hier.“ ACAT steuerte das Wissen bei, was wann wie angebaut wird. Bildung war auch hier das Zauberwort, Bildung, die direkt praktisch umgesetzt werden konnte. Cowpeas eignen sich besonders für den Anbau in dieser Klimazone. „Sie sind sehr nahrhaft, nicht krankheitsanfällig und können auch Dürrezeiten überstehen“, so der ACAT-Direktor. „Cowpeas sind teuer, das heißt, die Kinder können mit dem Teil, den sie nicht für die Familie brauchen und verkaufen, eine Menge Geld machen. Anschließend nutzen sie den Acker, um Gemüse anzubauen.“
Jetzt diskutieren die jungen Landwirtschaftsexperten darüber, ob sie nicht noch mehr Felder anlegen sollten. „Damit die Leute auch in anderen Dörfern genug zu essen haben“, erklärt die 14-jährige Sibongile. Besonders die Großmütter, deren Kinder an Aids gestorben sind, die eigentlich für sie hätten sorgen sollen, sie könnten mit der Ernte von diesen Feldern besser über die Runden kommen. „Und wir selbst haben auch etwas davon“, weiß Sibongile. „Wenn wir mal alleine sein werden, sind wir vorbereitet, wir wissen, wie wir überleben können.“
Autor: Gunhild Aiyub