Nepal: Es braucht ein Umdenken
Im Westen Nepals wird nach alten Traditionen gelebt – selbst, wenn manche davon längst verboten sind und Frauen und Mädchen stark diskriminieren oder sogar gefährden. Mittels Workshops, Selbsthilfegruppen und Kinderclubs will die Kindernothilfe die Dorfgemeinschaften zum Umdenken bewegen. Fotografin Julia Brunner war vor Ort und hat sich selbst ein Bild gemacht.
Nisha sitzt vor einem winzigen Unterschlupf, ein kleines Häufchen Stroh und ein leerer Getreidesack sind alles, was dort Platz hat. Auch sie selbst kann darin nur gekrümmt liegen. Es ist Nishas Unterschlupf, in den sie verbannt wurde, seit sie 12 Jahre alt war - jedes Mal, wenn sie ihre Menstruation bekam. Einmal im Monat, manchmal bis zu zehn Tage lang. Egal, ob Winter und bitterkalt oder Sommer und brütend heiß – hier musste sie „wohnen“, zugedeckt nur mit dem leeren Getreidesack. In die Schule durfte sie während dieser Zeit nicht gehen. Nur arbeiten, auf dem Feld.
Verbotene Tradition - weit verbreitet
Chhaupadi nennt sich dieser alte Brauch, der seit 2005 in Nepal eigentlich offiziell verboten, dennoch tief in den Köpfen der Menschen verankert und noch immer weit verbreitet ist. Während ihrer Menstruation werden Frauen und Mädchen in Menstruationshütten verbannt, da sie als „unrein“ und „unberührbar“ angesehen werden und weder mit Dingen im Haushalt noch mit dem Dorfbrunnen, Essen oder anderen Menschen, Tieren oder Pflanzen in Kontakt kommen sollen. Ihre kleinen Kinder dürfen sie mitnehmen, auf dem Feld dürfen sie schuften, ansonsten sind sie vom täglichen Leben ausgeschlossen. Das ist nicht nur diskriminierend, sondern auch gefährlich. Denn diese Hütten sind oft nichts mehr als ein Verschlag. Die Frauen und Mädchen sind dort extremer Witterung, wilden Tieren oder sexuellen Übergriffen schutzlos ausgeliefert.
Vor allem in den abgelegenen Dörfern im Westen Nepals ist diese Tradition völlig normal. Selbst die Frauen zweifeln nicht an der Rechtmäßigkeit ihrer Verbannung. Da nützt auch das Verbot des Brauchs nichts, der seit 2017 sogar mit drei Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe von 3.000 Rupien (umgerechnet etwa 37 Euro) geahndet wird – in vielen Dörfern wird das Ritual einfach weiter praktiziert. Zu tief sitzt die Angst vor schlechtem Karma. Davor, dass menstruierende Frauen und Mädchen ihren Familien „Unglück” bringen würden.
Workshops, die zum Umdenken bewegen
20.000 Menschen leben in dem Projektgebiet – in den verstreuten Dörfern weit abgelegen und schwer erreichbar im Westen Nepals. Genau dort, wo die Tradition noch tief verankert ist, setzen die Kindernothilfe-Mitarbeiter an. Mit Workshops, Schulungen für Lehrer und Eltern, über Lieder, interaktive Theateraufführungen und Veranstaltungen. Es ist ein schwieriger, langsamer Prozess. Es bedarf viel Aufklärung, vieler Gespräche und Treffen. Unermüdlich sind die Mitarbeiter des Kindernothilfe-Projektpartners CDF (Community Development Forum) unterwegs, oft stundenlang auf abgelegenen Straßen. Um die Dörfer immer wieder zu besuchen, die Menschen zum Umdenken zu bewegen.
Vor allem in den Schulen muss angesetzt werden, dort, wo die Kinder lernen. Das weiß auch Aukriti Kunwar, die Vorsitzende des Frauenrechtsforums in Jorayal. In den Schulen, wo die Mythen, die sich um das Thema Menstruation ranken, zurechtgerückt werden können. Dort auch deshalb, weil in den Köpfen des Lehrpersonals ebenso verankert werden muss, dass Mädchen trotz ihrer Menstruation weiterhin das Recht auf einen Schulbesuch haben. „Menstruation ist etwas völlig Natürliches. Ohne sie gäbe es kein Leben. DAS müssen wir den Menschen kommunizieren. Nur so kann das Stigma eliminiert werden“, fordert Aukriti.
Dörfer werden „Chhaupadi-frei“
Ein Stück weit ist das hier schon gelungen. „Die Kindernothilfe-Mitarbeiter besuchen uns seit fast einem Jahr regelmäßig. Inzwischen ist unser Dorf „Chhaupadi-frei“, Frauen und Mädchen dürfen während ihrer Periode im Haus schlafen - und wir sind so glücklich darüber, endlich“, seufzt die Sprecherin für Frauenrechte. Aber, so Aukriti: „Die Aufklärungsarbeit ist noch lange nicht genug - es gibt viele Themen, die wir mit unseren Kindern und Männern besprechen müssen, und ändern!“
Denn in den meisten Gemeinden werden Frauen und Mädchen von ihren männlichen Familienmitgliedern diskriminiert. Sie benötigen die Erlaubnis, um öffentliche Räume zu betreten, Einkäufe zu tätigen oder ihre Verwandten zu besuchen. Und auch Kinderehen sind weit verbreitet – obwohl eine Heirat unter 20 Jahren offiziell verboten ist. Dabei sind es nicht immer die Eltern, die ihre Töchter viel zu früh an oft viel ältere Männer verheiraten. Oft sind es die Mädchen selbst, die via soziale Medien wie TikTok, Instagram oder Snapchat Männer kennenlernen – und in der Hoffnung auf ein besseres Leben von zu Hause weglaufen und heiraten.
„Die meisten hier im Dorf haben nur die Landwirtschaft - es gibt keine Arbeit, und für die Kinder gibt es nicht viele Möglichkeiten, um von hier wegzukommen. Mein Mann ist früh gestorben, meine Kinder müssen mir in der Landwirtschaft und auf dem Feld helfen“, berichtet Witwe Dhauli Devi aus dem kleinen Dorf Budar. „Wenn sich meine Teenagermädchen verheiraten und wegziehen, habe ich niemanden mehr, der mir helfen könnte.“
Ein Jahr nach der Eheschließung, so besagt es die Tradition, muss die Frau ein Kind gebären. Die Zahl der Teenager-Schwangerschaften ist somit hoch – und aufgrund der schlechten medizinischen Versorgung vor allem in ländlichen Regionen auch die Mütter- und Säuglingssterblichkeit.
Gemeinsam gegen Frühverheiratung
„Es ist sehr wichtig, dass den Mädchen jemand erklärt, welche Konsequenzen es haben kann, wenn sie zu jung heiraten. Ohne Ärzte und medizinische Hilfe haben junge Mütter und deren ungeborene Kinder oft keine Überlebenschancen, wenn es Probleme gibt“, spricht Anita Dhami aus Erfahrung. Zu oft hat sie in ihrem Dorf gesehen, wie Kinderehen oftmals enden. Deshalb engagiert sie sich als ehrenamtliche Trainerin für das Kindernothilfe-Projekt. „Ich helfe den Projektmitarbeitern der Kindernothilfe bei deren Workshops, um sowohl die Jugendlichen in den Schulen als auch die Erwachsenen weiterzubilden. Es braucht ein Umdenken – vor allem auch bei den älteren Dorfbewohnern“, weiß Anita.
Kinderclubs kämpfen für die Rechte der Mädchen
Von Julia Drazdil-Eder
Referentin für Presse & Öffentlichkeitsarbeit bei der Kindernothilfe Österreich