Chile: Was Rassismus mit Kindern macht
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit – besonders gegenüber Geflüchteten – erreichen in Chile eine dramatische Dimension und hinterlassen entsetzliche Verletzungen, besonders bei Kindern. Im Interview erzählen die beiden Leiterinnen der Kindernothilfe-Partnerorganisation „Colectivo sin Fronteras“ wie sie sich dem entgegenstellen und für eine bessere Zukunft in ihrem Land kämpfen.
Vermutlich nirgendwo sonst auf der Welt hat es das Recht auf Asyl bis in die Nationalhymne geschafft: „Entweder wirst Du den Freien zum Grab – oder zum Zufluchtsort gegen die Verfolgung“ schrieb der Dichter Bernardo de Vera 1819 voller Pathos über Chile. Jedes Schulkind im Land kennt diesen Kehrvers. Aber das historische Versprechen aus der Zeit der Befreiungskriege gegen die spanische Kolonialherrschaft muss in den Ohren derjenigen, die als Geflüchtete im heutigen Chile Schutz vor Gewalt, Armut und politischer Unterdrückung suchen, wie Hohn klingen.
„Rassismus und Fremdenfeindlichkeit haben in diesem Land eine Dimension erreicht, die die Betroffenen verzweifeln lässt“, sagt die Anwältin und Kinderrechtsaktivistin María Elena Vásquez. Ihre Kollegin, die Psychologin Patricia Loredo, fügt hinzu: „Die extreme gesellschaftliche Polarisierung des zurückliegenden Jahres und ein Wahlkampf, der von einem Teil des politischen Spektrums explizit gegen Menschen, die als Geflüchtete und Migranten nach Chile kamen, geführt wurde, hat entsetzliche Verletzungen hinterlassen!“
Wie es dazu kommen konnte, was Rassismus und Xenophopie in Kindern auslösen, und welche Heilungsansätze es gibt, erklären die beiden Leiterinnen des Projektes Niñas y Niños sin Fronteras aus dem Santiagoer Stadtteil Independenica. Seit über zwei Jahrzehnten engagiert sich der chilenische Kindernothilfe-Partner für die Rechte von Kindern aus Migrantenfamilien.
Kindernothilfe: Seit dem 18. Oktober 2019 und den Massenprotesten für mehr soziale Gerechtigkeit wuchs die internationale Hoffnung auf einen Umbruch in Chile. Nicht zuletzt, weil eine überwältigende Mehrheit im Land zunächst ein Referendum zugunsten einer neuen Verfassung und anschließende die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung erzwang. Wie passen demokratische Aufbruch, beeindruckende Kreativität und Kraft der sozialen Bewegungen mit Rassismus und Fremdenhass zusammen?
María Elena Vásquez: Es gab in diesem Land immer Beides gleichzeitig: Gemeinschaftssinn, Offenheit, Solidarität – aber auf der anderen Seite die Instrumentalisierung der Angst gegenüber Fremden, die populistische Suche nach Sündenböcken, Ausgrenzung als Mittel zum Stimmenfang. Während der beiden Regierungsperioden unter Präsident Sebastian Piñera zwischen 2010 bis 2014 und jetzt seit 2018 haben wir zunächst erlebt, wie der Präsident in Cúcuta, an der Grenzbrücke zwischen Kolumbien und Venezuela, vor laufenden Fernsehkameras Dissident*innen des Maduro-Regimes und ihre Familien einlud, nach Chile zu kommen, Sondervisa versprach, aber dann, als es mit der - nach Syrien und Afghanistan - zweitgrößten Flüchtlingskrise der Welt ernst wurde, und inzwischen 6,5 Millionen Menschen aus Venezuela vor allem in den lateinamerikanischen Nachbarländern Schutz suchen, alles tat, um zu verhindern, dass die Geflüchteten in Chile tatsächlich Bleiberecht und Asyl erhielten. Am brutalsten verhält sich diese Regierung jedoch gegenüber den Familien aus Haiti, die es nach 2010 und der - mit einer Viertelmillion Toten schwersten Erdbebenkatastrophe in der Geschichte Lateinamerikas - auf der Flucht vor extremer Armut und einem zusammengebrochenen Staat, der kampflos riesige Armenviertelbezirke der großen Städte Haitis schwerbewaffneten kriminellen Banden überlässt, bis hierher geschafft haben.
Kindernothilfe: Wie erklärt sich diese Härte gerade gegenüber Geflüchteten aus Haiti? Chile ist doch ein Land, aus dem während der Jahre des Pinochet-Regimes Hunderttausende in alle Welt fliehen und um Exil bitten mussten?
Patricia Loredo: Aber das waren damals diejenigen, in denen Piñera und der politische Sektor, für den er steht, bis heute ihre Gegner sehen. Die menschenverachtende Brutalität gegenüber Geflüchteten aus Haiti hat vor allem damit zu tun, dass diese Menschen eine schwarze Hautfarbe haben, Kreole und eben nicht Spanisch sprechen und gegenüber dem unverbrämten Rassismus am hilf- und wehrlosesten sind. Bei keiner anderen Migrantengruppe hätte sich die Regierung getraut, Shows für die Fernsehsender zu inszenieren, in denen Menschen für Kollektiv-Abschiebungen in weiße Plastikoveralls gezwungen, dann wie Schwerverbrecher zu den auf dem Rollfeld wartenden Maschinen getrieben und dabei ihre Gesichter aus nächster Nähe gefilmt wurden.
María Elena Vásquez: Begründet werden diese Abschiebungen damit, dass die Geflüchteten ohne Registrierung über die chilenische Grenze gekommen seien und auch keine gültigen Papiere vorweisen könnten. Aber wir kennen Fälle, in denen Personen, die glaubhaft Verfolgungs- und Bedrohungssituationen in Haiti beschreiben, etwa, weil sie sich dem Terror von kriminellen Banden oder der Willkür der Polizei von Port-au-Prince widersetzt hatten, hier in Chile daran gehindert wurden, einen regulären Asylantrag zu stellen. Die chilenische Kriminalpolizei – PDI – musste neulich zugeben, dass sie den Befehl erhalten hat, auch Personen, die nach den Regeln des Völkerrechts an den Grenzen um Schutz bitten, abzuweisen. Die Zahl der in Chile anerkannten Asylanträge ist auf einen historischen Tiefstand gefallen. 2020 waren es ganze zehn Anerkennungen, 2021 gerade noch sieben. Das sind offizielle Zahlen des Innenministeriums. Und die Regierung verkündet voller Stolz, dass es ihr gelungen sei, Chile als Zielland für Geflüchtete „unattraktiv“ zu machen. Aber das ist noch nicht Alles: Für die letzten Wochen ihrer am 11. März endenden Amtszeit hat die Regierung Piñera angekündigt, jetzt auch noch alle Asyl- und Aufenthaltsbescheide der Vorgängerregierung unter Michelle Bachelet überprüfen und – soweit wie möglich – annullieren zu lassen.
Kindernothilfe: Gibt es dagegen nicht auch öffentliche Gegenwehr und Proteste aus der chilenischen Zivilgesellschaft? Wie gehen andere Nicht-Regierungsorganisationen – oder kirchliche Initiativen, die mit Geflüchteten arbeiten - mit dieser Situation um?
Patricia Loredo: Doch, zum Glück gibt es auch Solidarität mit den Betroffenen und lautstarken Widerstand gegen diese Politik! Ende September haben sich mehrere kirchliche Initiativen, ökumenische Organisationen und Menschenrechtsgruppen in einer vielbeachteten gemeinsamen Erklärung gegen die verbale und physische Gewalt gewandt, denen Geflüchtete vor allem in der nordchilenischen Stadt Iquique ausgesetzt waren, wo sich unter den Augen der Polizei pogromartigen Szenen abspielten und ein aufgebrachter Mob Zelte und Habseligkeiten venezolanischer Flüchtlinge in Brand setzte. Die Regierung reagierte auf diese Ereignisse, in dem sie noch härtere Grenzkontrollen und noch mehr Abschiebungen ankündigte. Die Unterzeichnerorganisationen dieses Appells verlangen hingegen vom Staat, endlich auf der Grundlage internationaler Rechtsnormen mit professionellen Humanitäre-Hilfe-Programmen auf diese kontinentale Krise zu reagieren – und nicht länger Schutzsuchende zu kriminalisieren.
Kindernothilfe: Die von Ihnen 2002 gegründete Nichtregierungsorganisation Corporación Colectivo Sin Fronteras hat mit ihren Programmen und Aktivitäten in diesen Jahren deutlich mehr als 10.000 Kinder aus Familien, die aus anderen lateinamerikanischen Ländern hierher nach Chile kamen, weil sie Schutz und eine Perspektive gesucht haben, unterstützt. Wie reagieren die Kinder auf die beschriebenen Entwicklungen?
María Elena Vásquez: Kinder haben ein feines Gespür dafür, wenn sich das Klima um sie herum verändert. Sie nehmen wahr, wenn die Stimmung in der Schule kippt, spüren, wenn der Umgang mit ihnen in den öffentlichen Gesundheitszentren – oder, falls sie gezwungen sind, zu arbeiten - auf der Straße ein anderer ist. Der Hass, den Politiker in ihren Reden säen, kommt bei ihnen an. Als der am Ende zum Glück unterlegene Kandidat José Antonio Kast, der es mit seinem rechts-populistischen Diskurs in den Stichwahlen um das Präsidentenamt am 19. Dezember auf über 44 Prozent gebracht hatte, versprach, die Grenzen im Norden Chiles mit einem unüberwindbaren Grabensystem vor Flüchtlingen zu sichern und Hunderttausende Migranten aus dem Land zu deportieren, übertrug sich die Angst der Eltern natürlich auf die Kinder. Das haben wir in unserer täglichen Arbeit mit den Kindern deutlich wahrgenommen.
Kindernothilfe: Wie kann diese Spirale gestoppt, wie die Resilienz-Kräfte der Kinder erneut gestärkt werden?
Patricia Loredo: Zunächst müssen wir selbst verstehen, dass die Verletzungen, die dieser Wahlkampf und der xenophobe Diskurs der Piñera-Regierung verursacht haben, nicht über Nacht verschwinden, weil ein menschenrechtsorientierter Kandidat wie Gabriel Boric am Ende die Präsidentschaftswahlen gewonnen hat und ab dem 11. März das Land regiert. Die Herausforderung besteht darin, den Kindern und ihren Familien Sicherheit zurück zu geben, ihnen faire Chancen auf eine Klärung ihres rechtlichen Status in Chile zu eröffnen. Wir haben ein Netzwerk aufgebaut, um alle Kinder aus dem Projekt weiter zu unterstützen. Keine Familie ist allein. Das gilt auch für schwierige juristische Fragen. Dann ist es ganz wichtig, dass die Kinder selbst über ihre Rechte sprechen, mit Gleichaltrigen und mit Erwachsenen. Dabei unterstützen wir sie, beispielsweise, indem wir öffentliche Veranstaltungen und Foren organisieren, auf denen Mädchen und Jungen über sich und ihren Blick auf die chilenische Gesellschaft diskutieren, selbstbewusst – und in dem Wissen, das internationale Recht auf ihrer Seite zu haben.
Mária Elena Vásquez: Aber zur Wahrheit gehört auch, dass wir Vieles von dem, was in den zurückliegenden Monaten geschehen ist, nicht mehr ändern können: Die haitischen Familien mit den Kindern in unserem Programm, die sich in ihrer Verzweiflung auf dem Landweg aufgemacht haben, um von Santiago aus an die Grenze zu den USA zu gelangen, können wir nicht mehr schützen. Das waren entsetzliche Abschiede für immer. Allein sechs Familien, deren Kinder hier bei uns engagiert waren, sind in den vergangenen Wochen aufgebrochen, ohne Dokumente, zum Teil mit Babys dabei. Die Menschen wussten, dass sie auf dieser Route über so viele Grenzen hinweg ihr Leben und das ihrer Kinder aufs Spiel setzen. Sie dazu gebracht zu haben, eine so entsetzliche Entscheidung zu fällen, ist ein Ergebnis des Hasses, der hier gesät wurde. Am Ende ist es ganz banal: Rassismus tötet!
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María Elena Vásquez Rodríguez (50) ist Anwältin und gelernte Erzieherin. Sie stammt aus der nordperuanischen Stadt Chimbote und kam 1996 zusammen mit ihrer Mutter als vom Fujimori-Regime politisch Verfolgte nach Chile. Hier wurden ihre Universitätsabschlüsse zunächst nicht anerkannt und sie war gezwungen – wie viele peruanische Frauen – als Hausangestellte für eine chilenische Familie zu arbeiten.
Autor: Jürgen Schübelin