Brasiliens Schicksalswahlen und die Kinderrechte
Von den Kinderrechten redet niemand: Schicksalswahlen in einer zutiefst gespaltenen und bis in Mark verletzten Gesellschaft.
Psychologin und Koordinatorin des Kindernothilfe-Büros für den Südosten von Brasilien Christiane Rezende spricht im Interview über die angespannte Stimmungslage vor der Entscheidung am 2. Oktober.
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Was Christiane Rezende beim Blick auf den 2. Oktober und die erste Runde der Präsidentschaftswahlen im größten und bevölkerungsreichsten Land Lateinamerikas am meisten empört, ist, dass es Themen gibt, die während der zurückliegenden Wochen so gut wie überhaupt nicht vorkamen: „Es ist, als ob wir bei der Beschäftigung mit den Kinderrechten in Brasilien um zehn bis 15 Jahre zurückgefallen wären!“ Für die Psychologin und Koordinatorin des Kindernothilfe-Büros für den Südosten von Brasilien mit Sitz in Belo Horizonte ist es ein Skandal, „dass niemand von den über 700.000 Kindern unter fünf Jahren spricht, die in diesem Land im Gefolge der Covid-Pandemie und ihrer dramatischen sozialen Schleifspuren unter massiven Hunger- und Unterernährungsproblemen leiden!“ Oder, dass die durchschnittlich 136,8 Fälle von schwerer Gewalt an Kindern, die Tag für Tag gemeldet werden – Zahlen, die um ein Vielfaches über denen von vor Februar 2020 liegen - in der öffentlichen Wahrnehmung praktisch keinerlei Rolle spielen.
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Kinderrechte spielen keine Rolle
Was ist der Grund dafür, dass – anders als bei früheren Wahlen in Brasilien – ausgerechnet diesmal das Thema der Kinderrechte derartig unter die Räder geraten konnte?
Christiane Rezende: Das hat mit der extremen Polarisierung und aufgeheizten Stimmung vor dem 2. Oktober zu tun. Präsident Jair Bolsonaro und seinem Lager geht es um Panikmache und die Diabolisierung ihres wichtigsten Gegenspielers und Vor-Vorgängers, Lula. Außerdem spielt Bolsonaro bewusst mit der Möglichkeit, ein Wahlergebnis, bei dem er der Unterlegene sein könnte, nicht anzuerkennen und Leute aus seiner Umgebung insinuieren sogar die Option eines Staatsstreiches. Aber auch die Kampagne der Arbeiterpartei (PT) und ihres Kandidaten Lula da Silva verlief komplett erwachsenenzentriert. Kinderrechte und die Instrumente, um sie durchzusetzen, kamen nicht vor. Die Angst der Menschen davor, dass die Gewalt – auch mit Todesopfern -, die wir während dieses Wahlkampfes erlebt haben, weiter eskalieren könnte, überschattete am Ende alle anderen Themen.
Christiane Rezende: Das hat mit der extremen Polarisierung und aufgeheizten Stimmung vor dem 2. Oktober zu tun. Präsident Jair Bolsonaro und seinem Lager geht es um Panikmache und die Diabolisierung ihres wichtigsten Gegenspielers und Vor-Vorgängers, Lula. Außerdem spielt Bolsonaro bewusst mit der Möglichkeit, ein Wahlergebnis, bei dem er der Unterlegene sein könnte, nicht anzuerkennen und Leute aus seiner Umgebung insinuieren sogar die Option eines Staatsstreiches. Aber auch die Kampagne der Arbeiterpartei (PT) und ihres Kandidaten Lula da Silva verlief komplett erwachsenenzentriert. Kinderrechte und die Instrumente, um sie durchzusetzen, kamen nicht vor. Die Angst der Menschen davor, dass die Gewalt – auch mit Todesopfern -, die wir während dieses Wahlkampfes erlebt haben, weiter eskalieren könnte, überschattete am Ende alle anderen Themen.
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Wie reagieren die Kindernothilfe-Partnerorganisationen in Brasilien auf diese fehlende Aufmerksamkeit für ihre Anliegen – und darauf, dass in den vergangenen Jahren unter Bolsonaro die Instrumente des „Estatuto da criança e do adolescente“ (ECA), das bei seiner Verabschiedung 1990 ja das allererste Kinderrechtestatut in Lateinamerika und eine Art Vorbildprojekt für ähnliche Prozesse in vielen anderen Ländern gewesen war, so an Bedeutung verloren haben?
Christiane Rezende: Die Kolleginnen und Kollegen in den Teams der Partnerorganisationen machen immer wieder darauf aufmerksam, welche gesellschaftlichen Verwüstungen durch das autoritär-patriarchale Familienbild verursacht wurden, das Bolsonaro und die politischen Parteien, die hinter ihm stehen, propagieren. Statt um Rechte von Kindern und Jugendlichen ging es die ganze Zeit bestenfalls darum, Boni - sporadische Zuweisungen - zu verteilen, die publikumswirksam gewährt und schnell wieder entzogen werden können. Eben klassischer Paternalismus - bestenfalls gut für schöne Fernsehbilder mit der Präsidentengattin! Auf Initiative mehrerer Kindernothilfe-Partnerorganisationen entstand jetzt ein Brief, der an alle Kandidatinnen und Kandidaten, die sich am 2. Oktober zur Wahl stellen, ging, mit der Aufforderung, sich im Fall ihrer Wahl dazu zu verpflichten, das ECA-Statut und seine Instrumente zu Kinderrechten und Kindesschutz mit neuem Leben zu füllen.
Christiane Rezende: Die Kolleginnen und Kollegen in den Teams der Partnerorganisationen machen immer wieder darauf aufmerksam, welche gesellschaftlichen Verwüstungen durch das autoritär-patriarchale Familienbild verursacht wurden, das Bolsonaro und die politischen Parteien, die hinter ihm stehen, propagieren. Statt um Rechte von Kindern und Jugendlichen ging es die ganze Zeit bestenfalls darum, Boni - sporadische Zuweisungen - zu verteilen, die publikumswirksam gewährt und schnell wieder entzogen werden können. Eben klassischer Paternalismus - bestenfalls gut für schöne Fernsehbilder mit der Präsidentengattin! Auf Initiative mehrerer Kindernothilfe-Partnerorganisationen entstand jetzt ein Brief, der an alle Kandidatinnen und Kandidaten, die sich am 2. Oktober zur Wahl stellen, ging, mit der Aufforderung, sich im Fall ihrer Wahl dazu zu verpflichten, das ECA-Statut und seine Instrumente zu Kinderrechten und Kindesschutz mit neuem Leben zu füllen.
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Was Kinder und Jugendliche zu ihrer Situation sagen
Kindernothilfe-Brasilien unterstützt seit mehreren Monaten ein großangelegtes Befragungs- und Konsultationsprojekt unter Kindern und Jugendlichen aus dem Umfeld der geförderten Projekte. Was sagen junge Menschen zu ihrer Situation? Wie haben sie die zurückliegenden Wochen und Monate und diesen brutalen Wahlkampf erlebt?
Christiane Rezende: Zunächst müssen wir uns eingestehen, dass die schier endlosen zweieinhalb Jahre seit dem Beginn der Corona-Pandemie mit all den Unterbrechungen des Präsenzunterrichts in den Schulen, den Schwierigkeiten, die Aktivitäten mit Kindern und Jugendlichen in den Projekten in den gewohnten Formaten aufrecht zu erhalten, den auf brutalste Weise eingeschränkten Sozialkontakten und den bereits erwähnten Mega-Problemen in den Familien dazu geführt haben, dass wir, was die Selbstwahrnehmung von Kindern anbelangt, vor einer radikal anderen Realität stehen als vor der Pandemie! In vielen Fällen, das zeigen die Interviews, ist das Selbstbewusstsein und das Selbstwertgefühl dieser Mädchen und Jungen regelrecht weggebrochen. Ich habe es schon gesagt: Wir sind in Sachen Kinderrechte nicht um zweieinhalb Jahre zurückgefallen - sondern um zehn bis 15! Kindernothilfe-Partner arbeiten im ganzen Land mit Kindern und Jugendlichen aus favelas, den Armenvierteln der Großstädte, oder extrem verarmten ländlichen Regionen, etwa im Vale do Jequitinhonha hier im Bundestaat Minas Gerais oder im Sertão, im brasilianischen Nordosten. Hier spielt sich ein soziales Long-Covid-Drama mit millionenfachen Abstürzen in extreme Armut und Hunger ab. Und hier stehen die Partner vor gewaltigen Herausforderungen, um mit den Kindern und Jugendlichen inmitten dieser Widrigkeiten wieder ein Bewusstsein dafür zu erarbeiten, wie wichtig Kinderrechte und vor allem die engagierte Teilhabe von Kindern und Jugendlichen an allen sie betreffenden Entscheidungsprozessen sind. Mit anderen Worten: Es geht darum, dass Mädchen und Buben wieder ganz konkret erleben, wie sie gemeinsam Dingen verändern können. Ein Signal, das mir persönlich Mut macht, ist, dass vor einigen Tagen eine landesweite Umfrage bestätigte, was wir als Kindernothilfe seit langem fordern: Die überwältigende Mehrheit aller jungen Menschen im Land will das aktive Wahlrecht ab 16 Jahren – und zwar so schnell wie möglich!
Christiane Rezende: Zunächst müssen wir uns eingestehen, dass die schier endlosen zweieinhalb Jahre seit dem Beginn der Corona-Pandemie mit all den Unterbrechungen des Präsenzunterrichts in den Schulen, den Schwierigkeiten, die Aktivitäten mit Kindern und Jugendlichen in den Projekten in den gewohnten Formaten aufrecht zu erhalten, den auf brutalste Weise eingeschränkten Sozialkontakten und den bereits erwähnten Mega-Problemen in den Familien dazu geführt haben, dass wir, was die Selbstwahrnehmung von Kindern anbelangt, vor einer radikal anderen Realität stehen als vor der Pandemie! In vielen Fällen, das zeigen die Interviews, ist das Selbstbewusstsein und das Selbstwertgefühl dieser Mädchen und Jungen regelrecht weggebrochen. Ich habe es schon gesagt: Wir sind in Sachen Kinderrechte nicht um zweieinhalb Jahre zurückgefallen - sondern um zehn bis 15! Kindernothilfe-Partner arbeiten im ganzen Land mit Kindern und Jugendlichen aus favelas, den Armenvierteln der Großstädte, oder extrem verarmten ländlichen Regionen, etwa im Vale do Jequitinhonha hier im Bundestaat Minas Gerais oder im Sertão, im brasilianischen Nordosten. Hier spielt sich ein soziales Long-Covid-Drama mit millionenfachen Abstürzen in extreme Armut und Hunger ab. Und hier stehen die Partner vor gewaltigen Herausforderungen, um mit den Kindern und Jugendlichen inmitten dieser Widrigkeiten wieder ein Bewusstsein dafür zu erarbeiten, wie wichtig Kinderrechte und vor allem die engagierte Teilhabe von Kindern und Jugendlichen an allen sie betreffenden Entscheidungsprozessen sind. Mit anderen Worten: Es geht darum, dass Mädchen und Buben wieder ganz konkret erleben, wie sie gemeinsam Dingen verändern können. Ein Signal, das mir persönlich Mut macht, ist, dass vor einigen Tagen eine landesweite Umfrage bestätigte, was wir als Kindernothilfe seit langem fordern: Die überwältigende Mehrheit aller jungen Menschen im Land will das aktive Wahlrecht ab 16 Jahren – und zwar so schnell wie möglich!
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Brasilien vor dem UN-Kinderrechtsausschuss
In Kürze muss die brasilianische Regierung vor dem UN-Kinderrechtsausschuss in Genf ihren periodischen Staatenbericht zum Stand der Umsetzung der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen vorlegen. Wie bereiten sich die Organisationen aus der brasilianischen Zivilgesellschaft auf diesen Auftritt vor? Was haben sich die Partner überlegt, um diese Möglichkeit zu nutzen, die Rückschritte und Versäumnisse, die die Bolsonaro-Administration zu verantworten hat, klar und deutlich zu benennen?
Christiane Rezende: Uns allen ist bewusst, dass das eine ganz wichtige Chance ist, um das, was sich in diesem Land in Sachen Verschlechterung der Situation von Kindern und Jugendlichen abspielt, heraus zu arbeiten. Die Kindernothilfe-Partnerorganisation CEDECA in Rio de Janeiro hat das Heft in die Hand genommen und arbeitet mit anderen Kinderrechtsinitiativen an einem parallelen Staatenbericht zur UN-Kinderrechtskonvention beim UN-Ausschuss in Genf. Acht Forscherinnen und Forscher untersuchen dazu verschiedene Themenfelder. 180 Kinder und Jugendliche aus den von Kindernothilfe unterstützten Projekten beteiligen sich mit ihren Erfahrungen und Erwartungen an diesem Prozess. Eine besondere Aufmerksamkeit gilt dabei gerade auch Kindern und Jugendliche mit Beeinträchtigungen. Unser Partner CERVAC aus Recife hat in einer aktuellen Stellungnahme jetzt zur Wahl darauf hingewiesen, dass ihre Perspektive, ihre Rechte und ihre Bedürfnisse während der Bolsonaro- und Pandemie-Jahre völlig aus dem Blick gerieten. Das müssen wir dringend ändern! Kindernothilfe ist die einzige internationale Organisation, die die Erarbeitung dieses Parallelberichts auch finanziell unterstützt. Wir versprechen uns sehr viel von diesem Engagement und verstehen diesen Bericht aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen und der für die Kinderrechte streitenden Organisationen in Brasilien auch als Beitrag für den Erhalt der Demokratie in unserem Land. Als unseren Beitrag in diesen schwierigen Zeiten!
Christiane Rezende: Uns allen ist bewusst, dass das eine ganz wichtige Chance ist, um das, was sich in diesem Land in Sachen Verschlechterung der Situation von Kindern und Jugendlichen abspielt, heraus zu arbeiten. Die Kindernothilfe-Partnerorganisation CEDECA in Rio de Janeiro hat das Heft in die Hand genommen und arbeitet mit anderen Kinderrechtsinitiativen an einem parallelen Staatenbericht zur UN-Kinderrechtskonvention beim UN-Ausschuss in Genf. Acht Forscherinnen und Forscher untersuchen dazu verschiedene Themenfelder. 180 Kinder und Jugendliche aus den von Kindernothilfe unterstützten Projekten beteiligen sich mit ihren Erfahrungen und Erwartungen an diesem Prozess. Eine besondere Aufmerksamkeit gilt dabei gerade auch Kindern und Jugendliche mit Beeinträchtigungen. Unser Partner CERVAC aus Recife hat in einer aktuellen Stellungnahme jetzt zur Wahl darauf hingewiesen, dass ihre Perspektive, ihre Rechte und ihre Bedürfnisse während der Bolsonaro- und Pandemie-Jahre völlig aus dem Blick gerieten. Das müssen wir dringend ändern! Kindernothilfe ist die einzige internationale Organisation, die die Erarbeitung dieses Parallelberichts auch finanziell unterstützt. Wir versprechen uns sehr viel von diesem Engagement und verstehen diesen Bericht aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen und der für die Kinderrechte streitenden Organisationen in Brasilien auch als Beitrag für den Erhalt der Demokratie in unserem Land. Als unseren Beitrag in diesen schwierigen Zeiten!
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Von Jürgen Schübelin, Lateinamerikaexperte
Christiane Rezende ist Psychologin. Sie arbeitet seit 2006 für Kindernothilfe-Brasilien und koordiniert eines der beiden KNH-Büros im Land. Geografisch ist ihr Team für die Beratung und Begleitung der Partnerorganisationen in den Bundestaaten Rio de Janeiro, São Paulo, Minas Gerais und Bahia zuständig.
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