Chile: 5 Monate nach dem NEIN zur neuen Verfassung
Am 4. September 2022 wurde in Chile per Volksabstimmung der Entwurf für eine neue, demokratischere, Sozial- und Rechtsstaats-orientierte Verfassung abgelehnt.
Unmittelbar nach dem eindeutigen „Nein“ waren, Schock, Entsetzen und Fassungslosigkeit groß. „Dass nur 38,14 Prozent der Abstimmenden diesen für Chile so dringend notwendigen neuen politischen Rahmen unterstützen würden, damit haben wir nicht gerechnet,“ hatte José Horacio Wood den Ausgang des Plebiszits damals kommentiert. Dieser vereitelte nicht nur das Ende einer extremen, neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Es scheiterte auch der ambitionierte Plan, den Kinderrechten Verfassungsrang einzuräumen und so einen couragierten lateinamerikanischen Beitrag zur Weiterentwicklung der UN-Kinderechtskonvention von 1989 zu leisten.
Seitdem haben sich die sozialen und wirtschaftlichen Probleme – vor allem für Familien mit geringem Einkommen – weiter verschärft. Im Interview sprechen Claudia Vera und José Horacio Wood vom Kindernothilfe-Partner Fundación ANIDE über die derzeitige Stimmung bei den Partnerorganisationen und Familien aus den Projekten.
Chiles "Long-Post-Covid-Krise"
In Chile sind zurzeit Sommerferien. Die Schulen haben geschlossen. Wie erleben Familien aus den Armenvierteln der großen Städte diese Wochen und wie gehen sie mit dem um, was einige chilenische Medien inzwischen als die „Long-Post-Covid-Krise“ bezeichnen?
José Horacio Wood: So etwas wie Ferien- und Urlaubsstimmung kennen die Menschen in den poblaciones, den Armenvierteln nicht. Das war aber auch schon vor Corona und den durch die Pandemie verschärften sozialen Abstürzen nicht anders. Wir erleben eine komplexe, aus vielen Facetten bestehende Krise mit einem deutlich angestiegenen Gewaltlevel. Lehrerinnen und Lehrer berichteten in den letzten Monaten des vor Weihnachten zu Ende gegangenen Schuljahres von einem signifikanten Anstieg der Zahl von Kindern, die einfach nicht mehr zum Unterricht kommen – einer besorgniserregenden Demotivation, was den Schulbesuch anbelangt! Ein weiterer Aspekt dieser Krise ist die Verschlechterung der sozialen Beziehungen, das Abschleifen der Hemmschwellen, Konflikte mit physischer Gewalt auszutragen.
Claudia Vera: Wir dürfen nicht vergessen, dass Chile mit 260 Tagen, an denen wegen Corona die öffentlichen Schulen geschlossen blieben und die Kinder nicht zum Unterricht konnten, weltweit eines der Länder mit den längsten Schulausfällen ist. Das hat verheerende Folgen: Etwa beim Blick auf Lernrückstände. Eine aktuelle Studie zeigt, dass ein großer Teil der 13- bis 14jährigen, die nicht auf teure Privatschulen gehen, selbst einfachste Texte nicht mehr versteht. Der Anstieg der Gewalt, von dem José Horacio spricht, hat auch damit zu tun, dass während der Pandemiejahre und den wochenlangen Lockdowns vor allem in den Armenvierteln die Macht der Drogenhändlerbanden gewachsen ist. Niemand stellt sich diesen Gangs in den Weg. Die Menschen erleben hilflos, wie sich der Alltag in der Nachbarschaft verändert hat, das Risiko, Opfer einer Gewalttat zu werden, immer mehr angestiegen ist.
Die Not der Ärmsten wird immer schlimmer
Wie gehen die Familien im Umfeld der ANIDE- und Kindernothilfe-Partnerprojekte und auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Projektteams mit den sich deutlich verschlechterten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen um?
José Horacio Wood: Zunächst müssen wir hier einige Daten, die von wirtschaftsnahen Medien verbreitet werden, richtigstellen. Dort ist davon die Rede, dass die Inflationsrate in Chile irgendwo zwischen 13 und 14 Prozent liegen würde. Diese Zahl ist viel zu niedrig und spiegelt nicht die tagtägliche Erfahrung beim Einkaufen wider. Die Nichtregierungsorganisation Fundación SOL, die systematisch die Preisentwicklung bei Produkten aus einem Basiswarenkorb beobachtet, hat für Dezember errechnet, dass Brot 31, Eier 33, Zucker 51, Mehl 52, Kerosin zum Kochen 54 und Speiseöl gegenüber dem Vorjahr 61 Prozent teurer geworden sind. Und das in einer Situation, in der knapp zwei Drittel der arbeitenden Menschen im Land unverändert weniger als 290.000 Pesos im Monat, das entspricht etwas mehr als 300 Euro, verdient. Viele Kolleginnen und Kollegen in den Teams der Partnerprojekte sind schockiert darüber, wie sehr der Anteil der Menschen, die unter immer prekäreren Bedingungen leben, zugenommen hat. Das belegt auch eine Zahl, die Wohnungsbauminister Carlos Montes neulich vorgestellte: Demnach gibt es in Chile inzwischen wieder 1091 Campamentos, 355 mehr als noch vor Corona: Notsiedlungen, in denen Familien auf einem besetzten Stück Land, unter Brücken, an Fluss- und Kanalufern, in der Nähe von Mülldeponien – oder in kleinen Zeltstädten mitten in öffentlichen Parks - hausen.
Claudia Vera: Ganz aktuell dazu haben uns in der vergangenen Woche die Kolleginnen aus dem Projekt „Nuestra Señora de la Victoria“ im gleichnamigen Armenviertel hier im Südwesten von Santiago darüber informiert, dass zwei Kinder aus dem Programm abgemeldet wurden. Als sie bei den Eltern nach dem Grund fragten, erfuhren sie, dass die Familie keinen anderen Ausweg sah, als in eine „toma“, eine nach einer Landbesetzung entstandene Notsiedlung vor der Stadt umzuziehen. Dort müssten sie keine Miete bezahlen und auch keine Stromrechnung. Die Mutter erklärte den Erzieherinnen im Projekt, dass das Geld, das die Familie mit ihrer Arbeit verdient, zum Leben im Armenviertel La Victoria einfach nicht mehr ausreicht. Das ist unsere neue Realität. Diese Verschlechterungen der Lebensbedingungen betreffen natürlich auch die Teams in den Partnerprojekten und ihre Familien, weil auch hier nur sehr moderate Löhne gezahlt werden können. Aber bereits während der Corona-Pandemie gab es Initiativen, um die Belastungen für die Familien der Kinder in den Projekten etwas zu reduzieren: Etwa durch gemeinsames Einkaufen – oder durch Aktivitäten mit Müttern, wie dem Verkauf von Selbstgebackenem oder selbst produzierten Lebensmitteln.
Der Schock sitzt tief
Wie wirken die Folgen des gescheiterten Verfassungsreferendums vom 4. September nach? In sehr vielen Armenvierteln hatte eine Mehrheit der Wahlberechtigten ja ebenfalls gegen den Verfassungsentwurf gestimmt.
José Horacio Wood: Die Situation ist sehr komplex und voller Widersprüche. Viele Chileninnen und Chilenen wollen nach wie vor Veränderungen. Aber sie akzeptieren dabei keine aktive Rolle des Staates. Das neoliberale System, das unter der Diktatur der Militärs in den siebziger Jahren installiert wurde, hat sich tief in das Wertemuster dieser Gesellschaft gefressen. Unablässig werden vom Staat, von der Regierung Antworten auf Probleme gefordert, aber ohne Bereitschaft, dem Staat dafür die notwendigen Werkzeuge - etwa beim Steuer- oder Umweltrecht - an die Hand zu geben. Der vielleicht größte Erfolg derjenigen, die diesen fortschrittlichen Verfassungsentwurf mit ihrer Hass- und Lügenkampagne zu Fall gebracht haben, besteht darin, dass es ihnen gelungen ist, Menschen, die immer bereit waren, sich für andere zu engagieren, sich zu organisieren, Verantwortung zu übernehmen, in die Resignation zu treiben. Das ist brandgefährlich.
Claudia Vera: Was wir konkret vor Ort in den Armenvierteln beobachten und was unsere Kolleginnen und Kollegen aus den Projektteams berichten, ist, dass diejenigen, die das Verfassungsprojekt unterstützt, bis zuletzt für diese Vision von einem demokratischeren und sozial gerechteren Chile gekämpft haben, den Schock der Niederlage noch immer nicht überwinden können. Und bei den Anderen dominieren Apathie und Desinteresse an politischen Themen und Prozessen – aber vor allem, wie José Horacio erläutert - ein generelles Misstrauen gegenüber dem Staat und der Politik. Die Leute sagen, was scheren mich die Diskussionen der Politiker, wenn ich es nicht mehr schaffe, die Rechnungen zu bezahlen und irgendwie durch den Monat zu kommen? Die Teams in den Partnerprojekten stehen vor der gigantischen Herausforderung, Kinder, Jugendliche und Erwachsene von Neuem dafür zu begeistern, dass es sich lohnt, Dinge selbst in die Hand zu nehmen und Veränderungsprozesse zu gestalten. Es geht darum, die Jugendlichen und vor allem die Erwachsenen zu überzeugen, dass es möglich ist, gemeinsam konkrete Probleme anzupacken, Lebensbedingungen zu verbessern und etwas für die Kinder zu erreichen. Bei den Jüngeren ist das etwas leichter. Sie nehmen ihre kleinen und größeren gemeinsam erreichten Erfolgserlebnisse viel unmittelbarer wahr. Und sie erinnern uns Erwachsene jeden Tag daran, dass wir kein Recht haben, uns bei unserem Engagement für die Kinderrechte von Rückschlägen entmutigen zu lassen. Dafür steht zu viel auf dem Spiel!
Die Fragen stellte Lateinamerikaexperte Jürgen Schübelin.
Der Anthropologe José Horacio Wood arbeitet seit 1995 bei der Fundación ANIDE (Fundación de Beneficiencia de Apoyo a la Niñez Desprotegida), der Kindernothilfe-Partner- und Koordinationsstruktur in Chile, und wurde 2001 zum Direktor dieser ökumenischen Stiftung berufen. Seine Kollegin Claudia Vera ist Germanistin und seit 1991 bei ANIDE, bzw. der Vorgänger-Organisation Programa de Menores, als Programm- und Projektkoordinatorin engagiert. Darüberhinaus begleitet und betreut Claudia Vera seit vielen Jahren die Lern- und Freiwilligendienstleistenden des Bündnisses Evangelische Freiwilligendienste in Chile. Chile war 1969 das erste Land in Lateinamerika, in dem sich die Kindernothilfe engagierte.