Kinder auf der Flucht, Teil 2
Am 10. Dezember 1948, gerade einmal dreieinhalb Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, proklamierte die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Palais de Chaillot, mitten in Paris, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR). Sie ist mit ihren gerade einmal 30 Artikeln bis heute das wichtigste Menschenrechts-Dokument der Weltgemeinschaft. Im Artikel 14 der AEMR geht es um ein hochaktuelles Thema, das die Arbeit der Kindernothilfe 2022 so stark bestimmte, wie noch nie zuvor: Das Recht auf Schutz und Asyl von Menschen auf der Flucht vor Verfolgung und Vertreibung.
103 Millionen Geflüchtete zählte das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) in 2022, davon 43 Millionen Kinder - das sind 15% mehr als 2021! Allein der russische Angriff auf die Ukraine sorgte für fast 14 Millionen Geflüchtete. Die Mehrheit von ihnen, rund acht Millionen, wurden zu Binnenflüchtlingen, die anderen suchten Schutz - vor allem in den westlichen Nachbarländern. Seit Jahrzehnten unterstützt die Kindernothilfe gemeinsam mit ihren Partnern in Afrika, Asien, Lateinamerika und seit 2020 auch in Süd- und Südosteuropa genau diese Menschen. Die Bedeutung, aber auch das finanzielle Volumen dieses Engagements sind zuletzt stark angewachsen.
Aus diesem Grund haben wir die Stimmen von Mitarbeiter*innen von Kindernothilfe-Partnerorganisationen zur Situation von geflüchteten Kindern, Jugendlichen und ihren Familien sowie ihrer Rechte vor dem Hintergrund der UN-Menschenrechts-Charta eingefangen:
Griechenland: Lebensgefahr und Pushbacks
Efi Latsoudi von der Kindernothilfe-Partnerorganisation Lesvos Solidarity aus Mytiline, Griechenland
"Wir müssen in aller Deutlichkeit sagen, dass die Menschenrechtsartikel, so wie sie in dieser historischen Charta von 1948 und allen nachfolgenden UN-Menschenrechtsdokumenten beschlossen und ratifiziert wurden, hier in Griechenland Schall und Rauch sind, so lange Geflüchtete und Schutzsuchende an unseren Grenzen äußerster Brutalität und täglichen „Pushbacks“ ausgesetzt werden - also gewaltsamen Zurückweisungen, die ganz oft für die Betroffenen - unter denen sich immer auch zahlreiche Kinder befinden - mit Lebensgefahren verbunden sind. Wir als Lesvos Solidarity engagieren uns deshalb mit aller Kraft weiter dafür, dass Menschen die Möglichkeit zu einer sicheren Überfahrt - ohne Gefahr für Leib und Leben - eröffnet wird und die griechische Regierung gemeinsam mit der Europäische Union die menschenwürdige Aufnahme von Schutzsuchenden und ein effizientes, faires Asylverfahren garantierten.
Wie tödlich die systematische Politik der Verweigerung eines sicheren Zugangs zu einem Asylverfahren ist, haben wir hier auf unserer Insel zuletzt in der Nacht vom 5. auf den 6. Oktober erleben müssen, als ein völlig überfülltes Boot vor der Küste von Lesbos Schiffbruch erlitt und 16 junge Frauen, ein Kind und ein junger Mann ums Leben kamen. Auch in anderen Teilen des Ägäischen Meeres sowie vor Kreta und dem Peloponnes ertranken in diesem Herbst Dutzende Geflüchteter, weil die heillos überfüllten Boote, in die sie von Schleusern gesetzt wurden, kenterten oder mit Wasser vollliefen - und ihnen niemand rechtzeitig zu Hilfe kam.
Und auch für diejenigen, die es tatsächlich an Land geschafft haben, ist die Gefahr, ohne Chance darauf, einen Asylantrag stellen zu können, illegal deportiert - also Opfer eines „Pushbacks“ zu werden - außerordentlich groß. Zahlreiche Fälle dieser menschenverachtenden Praxis wurden auch in diesem Jahr dank der Recherche engagierter Nichtregierungsorganisationen und großer europäischer Medien minutiös dokumentiert. Hier in Mytiline mussten wir In den vergangenen Tagen außerdem erleben, wie mitten in der Nacht in unmittelbarer Nähe zum Flüchtlingslager Mavrovouni - dem Nachfolgecamp von Moria - ein Feuer ausbrach und erneut Geflüchtete, darunter Mütter mit ihren Kindern, in große Gefahr gerieten. Wir versuchen mit allen uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, den betroffenen Familien im Lager zu helfen. Es deprimiert uns, zu sehen, dass die Bedingungen, unter denen am Rande dieses Kontinents Menschen gezwungen sind, in prekären Flüchtlingsunterkünften zu leben, einfach achselzuckend hingenommen werden. Der Blick auf die UN-Menschenrechtscharta und all die anderen Menschenrechtskonventionen erinnert uns: Daran dürfen wir uns niemals gewöhnen! Das dürfen wir nicht hinnehmen!“
Honduras: Gefährlich und traumatisch
Wilmer Vásquez von der Kindernothilfe-Partnerorganisation COIPRODEN in Tegucigalpa, Honduras
"Die beiden wichtigen Gedenktermine dieses Monats Dezember - mit der Erinnerung an den Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und dem Welttag der Migration aus Anlass der Verabschiedung der sogenannten ‚New Yorker Erklärung‘ durch die UN-Generalversammlung 1990 zu den Rechten von Flüchtlingen und Migranten - motivieren und bestärken uns, mit aller Entschlossenheit die Stimme für Mädchen, Jungen und Jugendliche aus Honduras zu erheben, die sich gezwungen sehen, vor Gewalt, Erpressungen oder der Zwangsrekrutierung durch kriminelle Banden, die die Armenviertel unserer Städte terrorisieren, vor Arbeitslosigkeit und Armut zu fliehen! Hinzu kommen zunehmend weitere Beweggründe, diesen schmerzhaften Schritt zu gehen, Familie und Freunde zu verlassen: Ich spreche von den immer verheerenderen Auswirkungen des Klimawandels auf die Länder Mittelamerikas und auf die Zukunftschancen junger Menschen!
Wir halten es angesichts von Zehntausenden Kindern und Jugendlichen aus unserem Land, die in den vergangenen Jahren aus Angst um ihr Leben zu Migrantinnen und Migranten wurden, überfällig, dass die Staaten in unserer Region endlich ihre Rolle und Aufgabe als Garanten für die Rechte von Kindern und jungen Menschen ausfüllen - und funktionierende Schutzmechanismen schaffen. Dafür bedarf es nicht nur warmer Worte, sondern ganz klar auch ausreichend Haushaltmittel, um diese Aufgaben professionell angehen zu können. Wir fordern angesichts der traumatischen Erfahrungen der vergangenen zehn Jahre und der deprimierenden, lebensgefährlichen Flüchtlingszüge von Kindern und Jugendlichen in Richtung Norden, dass unsere Regierungen und alle staatlichen Akteure die Menschenrechte von Kindern und Jugendlichen auf der Flucht oder in erzwungenen Migrationssituationen garantieren. Dafür ist es notwendig, das Kindeswohlprinzip aus der UN-Kinderrechtskonvention endlich anzuwenden, das - ohne Ausnahme - staatlichen und öffentlichen Stellen verpflichtet, bei all ihren Aktionen und ihrem Handeln den Interessen und dem Schutz von Kindern vor allen anderen Gesichtspunkten und Überlegungen Vorrang einzuräumen. In unserem Land, in Honduras, wurde die UN-Kinderrechtskonvention bereits vor 33 Jahren ratifiziert.
Für ihre Umsetzung - und dafür, dass diese Rechtsprinzipien endlich die Politik und das staatliche Handeln in Honduras und in den Nachbarstaaten wie eine transversale Achse durchziehen, fehlt jedoch noch sehr viel. Aber die Not von Kindern und Jugendlichen, die als einzigen Ausweg für sich und ihr Leben nur noch die Flucht und lebensgefährliche Migration sehen, duldet keinen Aufschub!"
Somaliland: Klimakrise und Hunger
Asia Abdulkadir vom Kindernothilfe-Regionalbüro in Somaliland
"Die akute Ernährungsunsicherheit in Somaliland hat sich seit Anfang 2022 massiv verschlechtert. Über 90 Prozent des Landes sind von einer extremen Dürre betroffen. Die Ernährung – und damit das elementare Menschenrecht auf Leben - von etwa 6,7 Millionen Kindern, Frauen und Männern ist akut gefährdet. Die Angst der Menschen, dass sich die Katastrophe von 2011 wiederholen könnte, als es bei der damaligen Hungersnot 260.000 Tote gab, die Hälfte von ihnen Kinder unter fünf Jahren, ist sehr groß.
Am schwierigsten stellt sich die Situation für Flüchtlinge und Vertriebene dar. Sie tragen die Hauptlast dieser Krise. Bislang wurden 2,97 Million Menschen durch die Dürre aus ihren Dörfern und den ländlichen Regionen vertrieben. Über 65 Prozent dieser Vertriebenen sind Kinder. Ganz viele Mütter sind ohne die Männer mit ihren Kindern im Land unterwegs, um irgendwo Nahrungsmittel oder die Hilfe von internationalen Organisationen zu finden. Am Ende landet die Mehrheit dieser Flüchtlinge in den Städten - meistens in überfüllten Quartieren, unter extrem prekären Bedingungen.
Für eine ganze Generation von Kindern, die gezwungen wird, dort aufwachsen, sind die Zukunftsaussichten schlecht. Aber auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kindernothilfe-Partnerorganisationen ist diese Situation extrem belastend. Diese Kinder und ihre Familien haben ein Recht darauf, humanitäre Hilfe zu erhalten – und sie haben ein Recht auf unsere Anteilnahme! Es ist notwendig, die entsprechenden internationalen Programme mindestens bis März dieses Jahres fortzusetzen, um eine allgemeine Hungersnot abzuwenden. Die Menschen in Somaliland brauchen dringend unsere Unterstützung – und das Engagement der Weltgemeinschaft! Bei dieser Krise habe ich jedoch den Eindruck, dass einfach viel zu langsam reagiert und viel zu wenig getan wird, weil das Interesse und die Aufmerksamkeit für die Region am Horn von Afrika sehr gering sind. Aber nicht, weil die Aufmerksamkeit der Weltgemeinschaft und der Geldgeber so sehr von dem Krieg gegen die Ukraine und andere Krisenherde absorbiert werden, dürfen wir aus dem Auge verlieren, was hier geschieht!"
Von Jürgen Schübelin